Freitag, 29. November 2013

Mein Vater – vom langen Abschied der Wirtschaftswundergeneration

Moabiter Plaudereien; 29.11.2013

Wenn ich mir meinen achtjährigen Sohn anschaue und auf die 80 Jahre Leben meines Vaters zurückblicke, dann danke ich dem Herrn prophylaktisch für das reiche Leben, das dem Kleinen bevorsteht. Und ich bewundere und verstehe die Lebensleistung meines Vaters.

Mein Vater wurde im Jahr 1935 geboren.

http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/thumb/7/7d/Nuremberg_laws.jpg/640px-Nuremberg_laws.jpg
"1935 - Jahr der Nürnberger Rassegesetze"
(Quelle: Wikipedia / Autor: United States Holocaust Memorial Museum Collection / Lizenz: public domain)
Berlin war damals eine Viermillionen-Stadt und eine der am dichtesten besiedelten Metropolen der Welt. Mein Vater wuchs am Nollendorfplatz auf, damals ein enges Arbeiterviertel. Das Einkommen war immer schmal. Die Weltwirtschaftskrise lag nicht lange zurück. Das Leben war rau und von Walldorf- oder Montessori- Schulen hörte man noch nichts. Kinder wurden als Erziehungsmaßnahme nackt vor die Haustür verfrachtet, wenn sie nicht parierten. „Nackt habe ich Dich auf die Welt gebracht. Und nackt sollst Du gehen, wenn Du nicht hörst!“

Hitler tat sein bestialisches Werk und veränderte die Welt meines Vaters recht schnell und sehr einschneidend. Der Vater meines Vaters wurde eingezogen und fiel bereits 1939 während des „Überfalls“ auf Polen. Mein Vater wurde also im Alter von vier Jahren Halbwaise. Seine Mutter verblieb verwitwet mit zwei Mädchen und einem Sohn. Es gibt ein wunderbares Photo meiner Großeltern, das zwei lachende schöne Menschen zeigt. Perdú. Ich selbst habe auch die Mutter meines Vaters niemals kennengelernt. Sie verstarb Jahre vor meiner Geburt. Ihr Leben hatten andere für sie aufgezehrt.

Im Jahr 1941 überfiel Deutschland die Sowjetunion und die Familie meines Vaters durfte die Segnungen der Deutschen Aggression von da an weidlich weiterhin auskosten. Er selbst kam in die Schule. Ich habe nicht die Phantasie, um mir den Unterschied seiner zur Einschulung meines Sohnes 2011 ausmalen zu können. Mein Vater erlebte die Kinderlandverschickung und beendete seine Schullaufbahn schon 1950 mit einem Volksschulabschluß. Letzteres nagte sein ganzes Leben an ihm.

Als der Krieg im Jahr 1945 endete, da „hausten die Russen“ in Berlin. Laichen lagen in den Straßen. Die Schwestern waren gefährdet. Es gab damals keine Supermärkte und die hatten auch nicht geöffnet. Ein Zehnjähriger sollte die Familie „als Mann ernähren“! Und das versuchte der Kleine! Laichen hatten Uhren. In nicht ausgebombten Wohnungen gab es Buntmetall zu holen. Das konnte man auf dem Schwarzmarkt „verhökern“. Dafür mußte man nur an den Regenrinnen die Hausfassaden hochklettern: Quasi ein „Kinderspiel“! Das konnte dem einen oder anderen Delinquenten auch mal zwei Wochen Arrest einbringen. Mein Vater könnte also irgendwie sogar „vorbestraft“ sein. Nicht irgendwie sondern definitiv erwarb sich mein Papa den „Willen zum Mehr“! Und dafür mußte er schlau und wendig sein.

Mein Vater lernte, wie man Geld durch selbständige oder halbselbständige Arbeit verdient. „Flyer“ hektographieren, das war ein einträgliches Geschäft. Und es erlaubte meinem Vater mit Deutscher Mark in Ungarn einzukaufen. Klamotten, Schuhe, weiß der Geier … Ich selbst habe in den 80er Jahren als Teenager der Neuen Deutschen Welle nur allzu gerne seinen Wildledermantel, seine Wildlederjacke oder (mit Schmerzen) seine Wildlederschuhe aufgetragen. Ärmel zu kurz? Wen schert’s?

Ab den 1960er Jahren lebte mein Vater das Wirtschaftswunder. „Arbeit gab es überall. Wenn Du irgendwo weggehen wolltest, dann nahm Dich gleich die nächste Firma!“ Das mag sein! Aber, mein Vater war zudem halt schlau! Und fleißig! Und umtriebig! „Wirbel – Willi“ war sein Spitzname! Und man braucht auch mal eine Nase für die Zukunft! Also drängte seine Nase ihn in die Welt der Datenverarbeitung.

Mein Vater fing mit Lochkarten an und begleitete die Computerisierung der Deutschen Wirtschaft bis hin zum Einsatz von CRM – Systemen! Die Legende seiner Arbeitgeber ist so schlecht nicht: Deutsche IndustrieNorm (DIN), Gema, IBM, Schmalbach-Lubekaetc. und letztendlich die SAP. Und! Mein Vater hatte einen Mentor: „Herrn Doktor Weißkamp“! Wenn der nach ein paar Jahren anrief, dann war mein Vater zur Stelle und die Familie zog um. Es gab mehr Geld zu verdienen, was so schlecht nicht sein kann.

Ich kam in den Raum und da saßen nur Professoren!“ Das ist die Liebeserklärung, die mein Vater der SAP hinterläßt! Seine Volksschulbildung war irrelevant geworden! Sein intelligenter Einsatz für diese Firma ließ Ihn das erleben. Und nicht zuletzt dieser Einsatz machte aus der SAP der 80er Jahre den Weltkonzern SAP von heute.

Mein Vater hat beruflich alles erreicht, was man aus seiner Perspektive beginnend mit dem Jahr 1935 überhaupt nur erreichen konnte! Mein Vater verblieb auch immer „amerikanisch“ und verließ sich niemals auf „sozialdemokratische Systeme“. Geld wurde sein Hobby. Bis zum Jahr 2008, dem Jahr der Finanzkrise, gab es ja für Menschen mit €uros auch noch Zinsen.

Und das Glück? Meine Mutter traf meinen Vater „in der Badewanne“! Fünfzig Jahre Ehe dürften als Zeichen gelten! Mit all den Höhen und Tiefen, die der Pastor 1962 sicherlich angekündigt hatte! Zwei Kinder, ein Sohn, eine Tochter! Welcher heute so toll ausgebildete Mensch mit Pillensyndrom will das hinbekommen? Und die Liebe zum Jazz tat ihr übriges, die Liebe zur „Negermusik“ war innig.

Und das Pech? Die Erziehungsmethoden unter den Nazis hat mein Vater niemals vergessen können. Den Verlust vom Vater und gerade mal ein paar Jahre später von der Mutter hat er mit Ignoranz gegenüber den Hinterbliebenen bestraft! Das verkrampfte kleinbürgerliche Duckmäusertum, die Hierarchiegläubigkeit der Deutschen und damit die bleierne „moralische Schwere“ konnte mein Vater niemals ablegen. Mein Vater legte sich unter die Höhensonne, weil gebräunte Haut erfolgreich aussehen sollte. Mein Vater stellte seinen Gang um, da nach außen gerichtete Fußspitzen Dynamik signalisieren sollten. Mein Vater gab seine Körpergröße mit 176 cm an, damit keine hämischen Bemerkungen hinsichtlich des §175 fallen konnten. Mein Vater liebte das Hausfrauendasein meiner Mutter, da es seinen beruflichen Erfolg symbolisierte. „Meine Frau muß nicht arbeiten!“

Wenn ich mir die Eltern der Frauen in Erinnerung rufe, mit denen ich selbst seit den späten Siebzigern zusammen war, dann fehlt meinem Vater im Vergleich zu vielen derer Väter das Element der Alpträume und das Element dieser narzistischen Aggression von Eltern dieser Generation gegenüber ihren eigenen Kindern. Dieser merkwürdige Wille, das eigene erlebte Leid den eigenen Kindern heimzuzahlen, das war meinem Vater fremd.

Mein Vater hat mich allerdings durchaus geprügelt. Er tat das aber nicht, weil er Sklavenarbeiter geschlagen, Kriegsgefangene verprügelt oder Juden getötet hätte! Er tat es, weil er selbst so brutal sozialisiert war. Dank seines geringen Geburtsgewichts konnte er auf mein physisches Anraten hin diese Praxis ab meinem 14ten Lebensjahr auch nicht mehr glaubwürdig vertreten.

Und mal zum Innehalten! Mein Vater würde meinen Sohn heute nicht so behandeln, wie mich vor 40 Jahren. Die Zeiten wandeln sich. Die vererbte Sozialisation als Erinnerung an Wilhelm II oder Hitler ist unterbrochen. Der gesprochene Fluch, dass die Verbrechen der Jahre 1933 – 1945 bis ins fünfte Glied leiden sollten, er gilt für meine Kinder schon in der vierten Generation nicht mehr!

Das Ende für die Wirtschaftswundergeneration naht nun leider. Gott zeigt der Generation der 1935 geborenen langsam ein „Halt“ auf. Mein Papa geht!


Keine Kommentare: