Sonntag, 9. September 2012

Unglück - Empfinden vs. Erleben


Wilhelm Schmid, Autor und Philosoph in Berlin, hat in der Wochenendausgabe der Süddeutschen Zeitung (SZ) einen Artikel veröffentlicht, der sich mit dem Unglücklichsein befasst.

Lernt, unglücklich zu sein! – Glücklichsein wird überschätzt, Zufriedenheit ist wenig schöpferisch. Die wahren Weltveränderer sind die Unglücklichen

Die größten Leistungen der Menschheit sind nicht den Glücklichen und Zufriedenen zu verdanken. Nicht sie haben die Französische Revolution veranstaltet. Auch Beethoven muss man sich nicht als einen glücklichen Menschen vorstellen. Die wenigsten Werke der Kunst, auch der Technik, entstanden aus Zufriedenheit.

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"Bei Unglück bedarf es eines Engels" (Wikimedia Commons -GNU Free Documentation License (FDL))

Was soll man mit dieser verkopften Argumentation anfangen? Die größten Risiken für das persönliche Glück eines Menschen in Deutschland liegen im Tod, in Krankheit, Arbeitsplatzverlust, Verlust des Vermögens, Scheidung und Verlust des Partners oder Verlust eines Kindes. 

Ein Mensch kann Unglück nicht nur empfinden, er kann ein Unglück erleiden. Angst und Depression kommen dann gern zu Gast.

Wer jemals erlebt hat, wie eine verlassene Ehefrau wirkt, die vom Mann verlassen alleine in einem riesigen Haus sitzt und nicht weiß, wie sie die monatlichen Raten aufbringen soll, der weiß, wie Angst aussieht.

Wem jemals als Vater vor einem Berliner Familiengericht die Vorwürfe nur so um die Ohren gedroschen wurden, der weiß, wie sich Angst anfühlt. Das Standardrepertoire der Vorwürfe lautet: Gewalttätigkeit, Alkoholismus und Drogenmissbrauch, Kindsmissbrauch und „Unfähigkeit zur Erziehung“. Die Konsequenzen erahnt jeder Vater schnell. Er verliert den Umgang mit seinem Kind.

Wer jemals mitbekommen hat, wie verzweifelt Menschen reagieren, wenn Ihnen Arbeitslosigkeit droht, wie aktionistisch, wie ängstlich oder irgendwann phlegmatisch sie reagieren, der kann die reale Angst vor Hartz-IV recht schnell mitempfinden. Wohlfeile argumentative Schrappnells über das „gute Leben“ von Menschen, die „auf Kosten der Allgemeinheit“ leben unterbleiben dann eine Zeit lang.

Soll man diesen Leuten ernsthaft Beethoven als Vorbild andienen?

Borwin Bandelow hat sich 2006 in seinem Buch „Das Angstbuch“ mit der Angst als einer Form des Unglücks befasst. „Die Emotionen, die uns am meisten beschäftigen, sind die, die mit unserem Verlangen nach Wärme, Geborgenheit, Liebe oder Sex verbunden sind. Und die Angst, diese vertraut gewordenen und angenehmen Gefühle wieder verlieren zu können, ist nicht weit davon entfernt.

Angst ist allgegenwärtig. Sie bestimmt, ob wir verzagte oder mutige, strebsame oder untätige, nachgiebige oder durchsetzungsfähige, liebenswürdige oder streitbare, disziplinierte oder nachlässige, humorvolle oder ernste, fröhliche oder niedergeschlagene, charmante oder unhöfliche, nachdenkliche oder sorglose Menschen werden.

Ein bisschen Angst muss jeder haben – diese allgemeine Weisheit trifft zu. Wer vorsichtig Auto fährt, die Türen gut abschließt oder sich auf Prüfungen aus Angst vor dem Versagen lange vorbereitet, hat durchaus Vorteile im Leben.

Was hilft diese Erkenntnis, wenn Unglück einen ereilt? Unglück, Angst und Depression führen oft zu einem Anstieg des Alkohol- und Drogenkonsums, verblüffenderweise zu zwanghaftem Onanieren und nicht selten zu Vereinsamung. Wer will das schon?

Bandelow gibt Ratschläge speziell für Ängste, die man aber auch bei Depressionen beherzigen sollte.

● Psychotherapie als professionelle Hilfe nutzt!

● Medikamente, die von einem Facharzt verschrieben werden, nutzen!

● Man kann an sich selbst arbeiten:

            ● Mit Unglück muss man sich abfinden. Unglück ist real.

            ● Angst darf nicht den Alltag bestimmen. Angst ist ein Gefühl.

            ● Man muss sich zusammenreißen. Wann, wenn nicht dann, wenn es 
               darauf ankommt?

            ● Ablenkungen sind schädlich, um sich aus einem Unglück befreien zu
               können. Alkohol und Drogen sind absolut tabu. 

            ● Man braucht Gleichgesinnte, mit denen man sich austauschen kann.
               Der eigene Freundeskreis hört sich die Geschichten der gescheiterten
               Ehe selten lange gerne an. Selbsthilfegruppen sind allerdings ein 
               wenig mit Vorsicht zu genießen. 

            ● Die überwältigende Mehrheit der Menschen überlebt ein Unglück. 
               Man stirbt nicht daran. Es gibt definitiv eine Zukunft!

            ● Sport ist ganz wichtig!

● Zeit heilt alle Wunden.

Mehr Trost kann ein Mensch leider nicht erwarten. Diese Ratschläge sind immerhin hilfreicher, als sich Beethoven zumVorbild zu nehmen. Und professionell onanieren kann man ja offenbar immer.

Quellen:
Süddeutsche Zeitung (SZ) – Seite 2; 08./09.09.2012
Borwin Bandelow: „Das Angstbuch“; Rowohlt Taschenbuch Verlag; 2006

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