Moabiter Plaudereien; 01.02.2014
Mein Sohn ist mir der wichtigste
Mensch in meinem Leben. Ich liebe natürlich auch meine Familie, in gewisser
Weise sogar meine Exfrau und ganz gewiss meine Superknallerliebe. Aber gerade
von meinem Kleinen möchte ich am liebsten alles Böse fern halten. Kann es sein,
dass ich genau deswegen bisher zu wenig Nächstenliebe gegenüber dem riesigen Rest der Menschheit praktiziert habe?
Bin ich ein Mensch mit Scheuklappen und ohne jeglichen Sinn für
Nächstenliebe? Die Frage steht seit heute Nachmittag im Raum. Und mein Gewissen
sagt heute Abend: „Ja, blöderweise!“ Denn, da ist eine Obdachlose auch vor meinen Augen über Monate schleichend krepiert! Sie wurde 55 Jahre alt. Diese letzte, eine Woche kältesten Winters im "Freien" war schlicht zu viel.
Genau! Ich
lebe in Deutschland und ich lebe in Berlin.
Die Arbeitslosenzahlen in diesem
Bundesland stiegen nach der Wende ins Uferlose an. Erst jetzt erreichen sie, 25 Jahre nach der
Wiedervereinigung, mit ca. 11% wieder den Stand von 1991. Gut! Die Bevölkerungszahl steigt rasant an. Da zeigt
der Mikrozensus 2013 schlicht falsche Zahlen. Die Wirtschaft wächst trotz TSB und trotz der Hingabe von Berlin Partner. Die teilweise exponentiell explodierende Verschuldung
des Bundeslandes ist mittlerweile gestoppt. Wenn man das SWOT-Verfahren
auf Berlin anwendet, dann erkennt man mehr
Chancen als Risiken! Aber Berlin ist weiterhin einfach nur das Griechenland Deutschlands. Auch in mir steckt mittlerweile die wohlkalkulierte Härte des Stadtbürgers, der um sein Einkommen kämpfen muß.
Was
Deutschland und die Europäische Union insgesamt seit der Finanzkrise 2008 anbelangt? Da schreiben die Zeitungen, da
berichtet der Äther nur von zwei „Tatsachen“: Uns geht es gut, wir machen alles
richtig! Die „Problemländer“ haben
alles falsch gemacht und die Bevölkerung dort muß das halt drastisch büßen! Aber genau hier in Berlin kann man täglich beobachten, was "büßen" bedeutet, wenn man Rentnern beim Flaschensammeln oder den Obdachlosen in den unzähligen "Suppenküchen" der Stadt zuschaut. Oder, wenn man betreten wegschaut.
Und das Schöne ist ja immer, dass man ein Mensch ist: optimistisch,
phlegmatisch und leicht zu überzeugen. Man kann gerade mich immer gerne mit Zahlen verwirren.
Und deswegen zeige ich heute mal wieder meine Lieblingsstatistik:
![]() |
"Vermögensverteilung in Germanskaya" (Quelle: Wikipedia / Autor: Bundeszentrale für politische Bildung / Lizenz: gemeinfrei) |
Ja! Es gibt so viele Statistiken, die das
Nettoeinkommen, das Haushaltseinkommen oder das Vermögen betrachten. Zu oft
sind die Zahlen verdreht oder nicht vergleichbar oder sie widersprechen sich. Und
wer kann Zahlen schon „lesen“?
Statistiken abbilden ist mehr schlecht als recht. Mal 'nen €uro mehr geben, das wäre in meinem Falle, in diesem Falle angebrachter gewesen! Denn die Obdachlose Frau, um die es hier geht, die steht als Beispiel für das erste, und in dieser Statistik das armutsergriffenste Zehntel!
Und ich habe
zu der obdachlosen Frau oft genug herüber geschaut, die in
diesem mickrigen, halb entlaubten Minimalpark an der Ecke Salzwedeler
und Quitzowstraße ihr Lager niedergeschlagen hatte.
Über Monate hinweg sah ich sie schlicht als Menetekel an. Mittwochs hole ich meinen Sohn per S-Bahn aus Pankowskaja ab, an
jedem zweiten Wochenende ebenfalls. Und sie saß, sie lag immer dort auf Ihrer Bank. Regen? Sturm? Schneefall? Bitterste Kälte? Egal! Jedesmal habe
ich meinen Sohn auf sie aufmerksam gemacht, um ihm Empathie und Mitleid anzudienen. Und niemals bin ich mit ihm zu Ihr hinüber
gegangen, um Ihr auch nur irgendetwas zu
geben! Sie war für mich schlicht das warnende Beispiel der "Gosse" gerichtet an meinen Sohn. Ein barmherziger Samariter bin ich offenbar nicht.
"Der barmherzige Samariter, 1880" - Aimé Morot (Quelle: Wikipedia / Source: Marc Baronnet / Lizenz: public domain ) |
Gesehen habe
ich die Frau also immer, wenn ich meinen Sohn abholte. Und gegeben habe ich Ihr niemals irgendetwas! Als abschreckendes Beispiel
habe ich Sie oft genug benutzt!
Aufgefunden wurde diese namenlose Frau
vom 29.01. auf den 30.01.2014! Der Tag war ein Mittwoch. Um 14:00 Uhr saß Sie noch auf
Ihrer Bank. Abends war Sie nicht mehr da und Ihre Habseeligkeiten waren ebenfalls verschwunden! Nichts hätte mich durch dieses "Fehlen" irritieren können!
Und heute? Heute kann man
zig Kerzen am Ort Ihres Todes sehen!
Ein Schriftzug unter Plastik beschreibt Ihre letzten Stunden. Viele Menschen
stehen vor diesem traurigen, minimalistischen „Altar“ und
bleiben pietätvoll ruhig davor stehen oder brüllen halt: „Die ist erfroren!“
Jetzt bin ich also geschockt. Mein Sohn las mir den Trauerbrief Wort für Wort laut vor. Und ich scheine auch nicht der einzige Anwohner zu sein, der Gewissensbisse hat.
Aber!? Wenn ich am kommenden Mittwoch erneut meinen Sohn abhole, werde ich dann nicht doch optimistisch, phlegmatisch und ergrauend blond versuchen, weiterhin auf meine "Berliner Art" alles Schlechte von dem Kleinen abzuhalten? Und werde ich die Scheuklappen nicht sogar für eine kleine Weile enger festzurren?
Heute und für die nächsten Tage herrschen PLUS-Grade in Berlin. Heute berichtet die Presse vom ersten Kälteopfer in Berlin.
Aber!? Wenn ich am kommenden Mittwoch erneut meinen Sohn abhole, werde ich dann nicht doch optimistisch, phlegmatisch und ergrauend blond versuchen, weiterhin auf meine "Berliner Art" alles Schlechte von dem Kleinen abzuhalten? Und werde ich die Scheuklappen nicht sogar für eine kleine Weile enger festzurren?
Heute und für die nächsten Tage herrschen PLUS-Grade in Berlin. Heute berichtet die Presse vom ersten Kälteopfer in Berlin.
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