Samstag, 1. Februar 2014

Obdachlose verstorben – vom 29.01. auf den 30.01.2014



Moabiter Plaudereien; 01.02.2014

Mein Sohn ist mir der wichtigste Mensch in meinem Leben. Ich liebe natürlich auch meine Familie, in gewisser Weise sogar meine Exfrau und ganz gewiss meine Superknallerliebe. Aber gerade von meinem Kleinen möchte ich am liebsten alles Böse fern halten. Kann es sein, dass ich genau deswegen bisher zu wenig Nächstenliebe gegenüber dem riesigen Rest der Menschheit praktiziert habe?

Bin ich ein Mensch mit Scheuklappen und ohne jeglichen Sinn für Nächstenliebe? Die Frage steht seit heute Nachmittag im Raum. Und mein Gewissen sagt heute Abend: „Ja, blöderweise!“ Denn, da ist eine Obdachlose auch vor meinen Augen über Monate schleichend krepiert! Sie wurde 55 Jahre alt. Diese letzte, eine Woche kältesten Winters im "Freien" war schlicht zu viel.

Genau! Ich lebe in Deutschland und ich lebe in Berlin. Die Arbeitslosenzahlen in diesem Bundesland stiegen nach der Wende ins Uferlose an.  Erst jetzt erreichen sie, 25 Jahre nach der Wiedervereinigung, mit ca. 11% wieder den Stand von 1991. Gut! Die Bevölkerungszahl steigt rasant an. Da zeigt der Mikrozensus 2013 schlicht falsche Zahlen. Die Wirtschaft wächst trotz TSB und trotz der Hingabe von Berlin Partner. Die teilweise exponentiell explodierende Verschuldung des Bundeslandes ist mittlerweile gestoppt. Wenn man das SWOT-Verfahren auf Berlin anwendet, dann erkennt man mehr Chancen als Risiken! Aber Berlin ist weiterhin einfach nur das Griechenland Deutschlands. Auch in mir steckt mittlerweile die wohlkalkulierte Härte des Stadtbürgers, der um sein Einkommen kämpfen muß.

Was Deutschland und die Europäische Union insgesamt seit der Finanzkrise 2008 anbelangt? Da schreiben die Zeitungen, da berichtet der Äther nur von zwei „Tatsachen“: Uns geht es gut, wir machen alles richtig! Die „Problemländer“ haben alles falsch gemacht und die Bevölkerung dort muß das halt drastisch büßen! Aber genau hier in Berlin kann man täglich beobachten, was "büßen" bedeutet, wenn man Rentnern beim Flaschensammeln oder den Obdachlosen in den unzähligen "Suppenküchen" der Stadt zuschaut. Oder, wenn man betreten wegschaut.

Und das Schöne ist ja immer, dass man ein Mensch ist: optimistisch, phlegmatisch und leicht zu überzeugen. Man kann gerade mich immer gerne mit Zahlen verwirren. Und deswegen zeige ich heute mal wieder meine Lieblingsstatistik:

http://upload.wikimedia.org/wikipedia/de/thumb/5/53/Verm%C3%B6gensverteilung_Deutschland_2002_und_2007.svg/634px-Verm%C3%B6gensverteilung_Deutschland_2002_und_2007.svg.png
"Vermögensverteilung in Germanskaya" (Quelle: Wikipedia /
Autor: Bundeszentrale für politische Bildung / Lizenz:
gemeinfrei)
Ja! Es gibt so viele Statistiken, die das Nettoeinkommen, das Haushaltseinkommen oder das Vermögen betrachten. Zu oft sind die Zahlen verdreht oder nicht vergleichbar oder sie widersprechen sich. Und wer kann Zahlen schon „lesen“? 

Statistiken abbilden ist mehr schlecht als recht. Mal 'nen €uro mehr geben, das wäre in meinem Falle, in diesem Falle angebrachter gewesen! Denn die Obdachlose Frau, um die es hier geht, die steht als Beispiel für das erste, und in dieser Statistik das armutsergriffenste Zehntel!

Und ich habe zu der obdachlosen Frau oft genug herüber geschaut, die in diesem mickrigen, halb entlaubten Minimalpark an der Ecke Salzwedeler und Quitzowstraße ihr Lager niedergeschlagen hatte.

Über Monate hinweg sah ich sie schlicht als Menetekel an. Mittwochs hole ich meinen Sohn per S-Bahn aus Pankowskaja ab, an jedem zweiten Wochenende ebenfalls. Und sie saß, sie lag immer dort auf Ihrer Bank. Regen? Sturm? Schneefall? Bitterste Kälte? Egal! Jedesmal habe ich meinen Sohn auf sie aufmerksam gemacht, um ihm Empathie und Mitleid anzudienen. Und niemals bin ich mit ihm zu Ihr hinüber gegangen, um Ihr auch nur irgendetwas zu geben! Sie war für mich schlicht das warnende Beispiel der "Gosse" gerichtet an meinen Sohn. Ein barmherziger Samariter bin ich offenbar nicht.

http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/thumb/0/0f/Aime-Morot-Le-bon-Samaritain.JPG/349px-Aime-Morot-Le-bon-Samaritain.JPG
"Der barmherzige Samariter, 1880" - Aimé Morot (Quelle: Wikipedia /
Source: Marc Baronnet / Lizenz:
public domain )
   Was ich tatsächlich getan habe, das hat mit Nächstenliebe wenig zu tun! Ich bin seit Monaten dabei, meinem Sohn einen „Gruselroman“ über „so'n Monster- und Ritter-Ding" zu schreiben! Das geht kapitelweise von statten! Und genau diese Frau diente als Vorbild für eine zentrale Figur, die genau an dieser Straßenecke hausen soll! Selbst die Farbe ihrer Decke habe ich verwendet.

Gesehen habe ich die Frau also immer, wenn ich meinen Sohn abholte. Und gegeben habe ich Ihr niemals irgendetwas! Als abschreckendes Beispiel habe ich Sie oft genug benutzt!

Aufgefunden wurde diese namenlose Frau vom 29.01. auf den 30.01.2014! Der Tag war ein Mittwoch. Um 14:00 Uhr saß Sie noch auf Ihrer Bank. Abends war Sie nicht mehr da und Ihre Habseeligkeiten waren ebenfalls verschwunden! Nichts hätte mich durch dieses "Fehlen" irritieren können!

Und heute? Heute kann man zig Kerzen am Ort Ihres Todes sehen! Ein Schriftzug unter Plastik beschreibt Ihre letzten Stunden. Viele Menschen stehen vor diesem traurigen, minimalistischen „Altar“ und bleiben pietätvoll ruhig davor stehen oder brüllen halt: „Die ist erfroren!“

Jetzt bin ich also geschockt. Mein Sohn las mir den Trauerbrief Wort für Wort laut vor. Und ich scheine auch nicht der einzige Anwohner zu sein, der Gewissensbisse hat. 

Aber!? Wenn ich am kommenden Mittwoch erneut meinen Sohn abhole, werde ich dann nicht doch optimistisch, phlegmatisch und ergrauend blond versuchen, weiterhin auf meine "Berliner Art" alles Schlechte von dem Kleinen abzuhalten? Und werde ich die Scheuklappen nicht sogar für eine kleine Weile enger festzurren? 

Heute und für die nächsten Tage herrschen PLUS-Grade in Berlin. Heute berichtet die Presse vom ersten Kälteopfer in Berlin.

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